Film

Chrischis Filmtipp zum Wochenende

Systemsprenger

Mit dem deutschen Film ist das so eine Sache. Der Großteil der Produktionen, die von der Filmförderung überhaupt erst zur Produktion freigegebenen Streifen ist meist bieder inszeniert und dem Massengeschmack des Fernsehpublikums angepasst worden. Trotzdem finden sich jedes Jahr ein paar wenige Produktionen, die einen Blick wert sind. Im Jahr 2019 gehörte „Systemsprenger“ eindeutig in diese Kategorie. Vor allem dank der jungen Darstellerin Helena Zengel, der sich hinterher die Tore Hollywoods öffneten.

Gleich zum Einstieg werden wir Zeuge, wie Bernadette (Helena Zengel), die nur ´Benni´ genannt werden möchte, da ihr vollständiger Name nach eigener Aussage “voll tussig” klingt, in ihrer Schulklasse komplett ausrastet, nachdem sie von Mitschülern provoziert wurde. Sie geht dabei so aggressiv auf die anwesenden Schüler und Lehrer los, dass diese sie, anstatt das Mädchen zu bändigen, auf dem Schulhof isolieren.

Völlig außer sich brüllt das junge Mädchen wüste Schimpfwörter heraus und wirft mit Gegenständen um sich, während sie von ihren Mitschülern und Lehrern aus sicherer Entfernung beobachtet wird. Eine Situation, die keine Seltenheit darstellt und so wird Benni zum wiederholten Mal von der Förderschule suspendiert.

Frau Banafé (Gabriela Maria Schmeide), eine herzensgute Dame vom Jugendamt, versucht ihr Bestes, um Bennie in Pflegefamilien oder Wohnheimen unterzubekommen. Doch überall fliegt die Neunjährige aufgrund ihrer Anfälle wieder hinaus. Aus ihrem neuesten Wohnheim, in dem der Erzieher Robert (Tedros Teclebrhan) einfühlsam versucht, das Mädchen zu integrieren, entfernt sie sich unerlaubt, um per Anhalter nach Hause zu Bianca Klaas (Lisa Hagmeister), ihrer Mutter, sowie ihren zwei kleineren Geschwistern zu gelangen.

Dort kommt es gleich wieder zu einem brutalen Übergriff, da der einstige, äußerst rabiate, Lebensgefährte Jens (Roland Bonjour), entgegen den Versprechungen der Mutter, immer noch nicht ausgezogen ist. Ein Erlebnis, welches nur mit Hilfe von Polizisten geklärt werden kann und Benni einen kurzzeitigen Klinikaufenthalt unter Beruhigungsmitteln beschert.

Auch im Wohnheim eskaliert die Lage, als das Mädchen erneut ausrastet und dabei sogar zum Küchenmesser greift. Doch es gibt Hoffnung am Horizont, als der Anti-Gewalt-Trainer Michael Heller (Albrecht Schuch) in das Leben des Mädchens tritt. Eigentlich als Schulbegleiter engagiert, was natürlich gründlich in die Hose geht, hat der junge Familienvater eine Idee.

Als er erfährt, dass Benni als Kleinkind schlimmes widerfahren ist (ihr wurden laut Aussage der Jugendamt Mitarbeiterin, Windeln als Kleinkind ins Gesicht gedrückt), bietet er den verzweifelten Ärzten, die Benni am liebsten nach Südafrika in ein Austauschprogramm stecken möchten, einen Therapieversuch an.

Er verbringt mit dem unter starken Wutanfällen leidenden Mädchen ein paar Tage in einer Waldhütte bei kompletter Ruhe, fernab der Hektik von Wohnheimen, Kliniken und Schulen. Dieses Brett von einem Film muss man erst einmal verdauen, was durchaus seine Zeit braucht, denn das Langfilm-Regiedebut von Nora Fingscheidt wirkt lange nach.

Das von ihr verfasste Drehbuch kostete fünf Jahre an Recherche mit Ärzten und Betroffenen. In dieser Zeit arbeitete und lebte Fingscheidt in Psychiatrien und Wohngruppen, um das Verhalten solch erkrankter Mädchen und Jungen zu erforschen. Wer jetzt aber einen Lösungsvorschlag von ihr erwartet, den wird der Film kalt erwischen.

Kein normales Leben

Stattdessen erlangt der Zuschauer, zumindest ging es mir so, die Erkenntnis, dass man selbst wohl auch nicht in der Lage wäre, ein solch gestörtes Kind groß zu ziehen. Auch wenn man Bennis labile Mutter gerne hier und da am Kragen packen möchte, vor allem, wenn sie einmal mehr das Versprechen, ihre Tochter wieder nach Hause zu bringen, platzen lässt und nicht einmal den Mumm besitzt, es ihrem Kind ins Gesicht zu sagen, so kann man sie doch gut verstehen.

Szenen, in denen Frau Klaas der verzweifelten Jugendamt Mitarbeiterin unter Tränen gesteht, dass sie Angst vor ihrer eigenen Tochter habe, gehen unter die Haut. Wenn dann bei Frau Banafé selbst die Tränen der Verzweiflung ausbrechen, ist das schon hart mit anzuschauen.

Immer wieder gibt es aber auch Szenen der Hoffnung. So lässt sich Benni nur von ihrer eigenen Mutter im Gesicht berühren, bei jedem anderen bricht sofort eine Panikattacke aus. Als sie jedoch an einem Punkt der Geschichte ein Baby in den Arm bekommt und dieses ihr intensiv im Gesicht herumgrabscht, passiert… nichts!

Doch Regisseurin Fingscheidt lässt uns keine Illusion, es wird immer wieder aus scheinbar heiterem Himmel Anfälle geben. Ein trautes Familienleben wird Benni niemals erleben, auch wenn man es dem eigentlich lieben Mädchen, dass nur auf der Suche nach Stabilität ist, so sehr wünscht.

Ihre Anfälle wurden dabei hektisch, pink, mit aufblitzenden Bildern und anstrengender Musik inszeniert, damit man als Zuschauer ein ungefähres Gefühl für Bernadettes Empfinden erhält. Toll gemacht. Die Schauspieler agieren allesamt glaubwürdig, insbesondere natürlich die damals noch kleine Helena Zengel, mit der intensiv an ihrer Rolle gearbeitet wurde. Sie spielt so toll, dass sie kurz darauf an der Seite von Tom Hanks in „Neues aus der Welt“ agieren durfte. Von ihr werden wir noch viel hören.

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